Lebensqualität erhalten und Würde bewahren: das sind zentrale Zielsetzungen in der Palliativen Versorgung am Lebensende. Sogar in unserem Grundgesetz ist die Unantastbarkeit der Würde verankert – doch was genau bedeutet eigentlich ‚Würde‘? Ist es die Achtung vor dem Wert des anderen? Die Achtung vor dem eigenen Wert? Das Bewusstsein für unantastbare Werte? Jan Gramm beschäftigt sich als Psychologe im Palliativbereich beruflich mit dem Thema: „Der Begriff kann eigentlich immer nur subjektiv beschrieben werden. Zum einen ist es ein Gefühl, das uns als Lebewesen automatisch inbegriffen ist. Zum anderen ist es etwas, das auch in Beziehungen eine Rolle spielt – etwas, das von außen gestärkt oder verletzt werden kann.“

Was verletzt die Würde – und was stärkt sie?

Aus welchen Gründen Palliativ-PatientInnen manchmal Verletzungen ihrer Würde empfinden, selbst wenn im Krankenhaus-, Pflege- oder Hospiz-Alltag alle um eine möglichst gute Versorgung bemüht sind, hat der kanadische Psychiater Professor Harvey Chochinov (sprich: Tschotschinof) untersucht. Dazu befragte er Patienten nach ihren Erfahrungen: Was verletzt Würde und was stärkt sie in einer Situation, in der man sich sowohl der Erkrankung als auch dem Behandlungssystem ausgeliefert fühlen kann? Aus den Ergebnissen entwickelte er 2005 ein Würde-Modell, das aus drei Aspekten besteht: krankheitsbezogenen, sozialen und innerpsychischen. Was das konkret heißt, erklärt Jan Gramm so: „Da sind zum einen die unmittelbaren Folgen einer schweren Krankheit – verändertes Aussehen, Schmerzen, Unsicherheit, was noch kommt. Belastende soziale Faktoren sind beispielsweise ein Verlust von Privatsphäre und sozialer Einbindung. Im inneren Erleben kann der Verlust der gewohnten Rolle und der Autonomie der Grund für das Gefühl sein, seine Würde zu verlieren. Dazu kommt die Frage, welche Spuren werden ich hinterlassen, was bleibt von meinem Leben?“
Forschungen zeigen, dass bei schwerkranken und sterbenden Menschen neben Schmerzen vor allem der Verlust des Würdegefühls zu einem massiven Sterbewunsch führen kann, berichtet der Palliativpsychologe aus Friedberg. „Aussagen wie ‚Ich schäme mich für mein Aussehen‘, ‚Ich bin doch nicht mehr ich‘ oder ‚Ich bin doch nur eine Belastung für andere‘ sind Hinweise für ein verletztes Würdegefühl.“
Eine Möglichkeit, Menschen in dieser Situation zu helfen, ihr Gefühl von Würde wiederzufinden und so das psychische Wohlbefinden zu stärken, sieht Jan Gramm in der von Chochinov entwickelten ‚Würdezentrierten Therapie‘.

„Wann haben Sie sich besonders lebendig gefühlt?“

Bei der Würdezentrierten Therapie handelt sich um eine psychologische Kurzintervention, bei der dem Patienten in einem ausführlichen Gespräch vordefinierte Fragen gestellt werden, die zum Nachdenken über das eigene Leben anregen. Da geht es um Wünsche, Werte und Erinnerungen – alles, was die Wertschätzung für die eigene Biographie erhöht und die Bedeutung der persönlichen Lebensgeschichte stärkt. Jan Gramm erklärt, wie das in der Praxis abläuft: „Das Gespräch wird grundsätzlich eröffnet mit der Frage nach den wichtigsten Lebensereignissen, oder ‚Wann haben Sie sich besonders lebendig gefühlt?‘. Weitere Fragen sind ‚Worauf sind Sie stolz?‘ oder ‚Gibt es eine Art Lebensweisheit, eine Lehre, die Sie aus dem Leben gezogen haben und die Sie auch anderen mit auf den Weg geben würden?‘. Außerdem wird nach konkreten Wünschen oder auch Ratschlägen für die Angehörigen gefragt.“
Das Erinnern und Berichten von dem, was einem im Leben ganz besonders wichtig war, stärkt den Erzählenden in mehrfacher Hinsicht: durch das Bewusstmachen dessen, was ihn ausmacht und auch durch das Gefühl, der Nachwelt etwas davon hinterlassen zu können. Denn das Gespräch wird aufgenommen und aufgeschrieben. So entsteht ein Dokument, dass auch über den Tod hinaus den Angehörigen bleibt. Gramm: „Das Dokument ist sehr wichtig für die Angehörigen. Manche nutzen es als Grundlage für die Trauerrede, es wird an besonderen Orten aufbewahrt, es wird vervielfältigt und weitergereicht. Es kann in der Trauerphase auch sehr stärkend sein einen Satz wie ‚es wird schwer für ihn, aber ich weiß, er wird es schaffen‘ zu lesen.“
Doch zunächst wird das verfasste Dokument ein paar Tage nach dem Gespräch der Patientin oder dem Patienten vorgelesen. „Das Vorlesen des fertigen Textes ist immer ein besonderer Moment, bei dem die PatientInnen sehr berührt sind – und ich als Leser auch“, sagt Jan Gramm. „Viele sagen dann ‚Das haben Sie schön geschrieben‘, und ich antworte dann: ‚Das haben Sie schön erzählt!‘
Mir fallen aus jeder einzelnen Begleitung Formulierungen aus den Dokumenten oder Szenen beim Verfassen oder Vorlesen ein. Es ist fast immer berührend, weil ja die Verbundenheit zwischen den Menschen explizit Raum bekommt.
Eine Patientin zum Beispiel, die sehr tatkräftig und wenig emotional war, sagte: ‚Ich möchte dieses Dokument nutzen, um meiner Nichte etwas zu sagen, was mir sonst eher schwerfällt: nämlich, dass ich sie liebe!‘. Da steckt Kraft drin. Ein anderer Patient, dessen leidenschaftlich ausgelebtes Hobby – Musik in einer Band – ein Leben lang zu viel Streit mit seiner Frau geführt hatte, erwähnte die Musik nicht in dem Dokument, das ja letztlich für seine Frau verfasst wurde. Er hat damit im Nachhinein seine Frau wertgeschätzt, auf die er sonst nicht so viel Rücksicht genommen hatte.“

Würdebewahrendes Handeln im Klinikalltag

Neben dem Dokument, das hinterlassen werden kann, ist laut Chochinov die Haltung der Behandelnden entscheidend. Jan Gramm erläutert: „Er hat dafür das ‚ABCD of Dignity in Care‘ entwickelt – einen Leitfaden für Behandler, der an deren Verantwortung für die Aufrechterhaltung und Stärkung der Patientenwürde appelliert. Der Grund-Satz eines würdebewahrenden Patientenkontakts lautet: ‚Was sollte ich über Sie als Person wissen, um Sie bestmöglich behandeln zu können?‘. Neben dem medizinisch-pflegerischen Blick geht es also um die psychosozialen und auch spirituellen Seiten des Menschen. In jede Begegnung fließen eigene Wertvorstellungen/Einstellungen ein (Attitude), äußert sich Freundlichkeit durch kleine Handlungen (Behavior), ist spürbar, ob ich mich meinem Gegenüber verbunden fühle und wirklich präsent für ihn bin (Compassion), und ob ich im Gespräch erfasse, worum es meinem Gegenüber wirklich geht und was er gerade braucht (Dialogue). Das ‚ABCD of Dignity in Care‘, das würdebewahrende Handeln im Klinikalltag, halte ich für noch wichtiger als die Würdezentrierte Therapie, die man doch nur ein paar wenigen Patienten anbieten kann.“
Um die Würdezentrierte Therapie anwenden zu können, empfiehlt Jan Gramm neben Kommunikationskompetenz auch die Ausbildungen der Deutschen Gesellschaft für Patientenwürde dazu.

„Die Menschen leuchten wieder mehr“

Doch viele der Ansätze, die sich aus dem Konzept der würdewahrenden Versorgung ergeben, allen voran die zuvor beschriebene persönliche Haltung, kann man auch losgelöst von einer therapeutischen Maßnahme in die alltäglichen Begegnungen mit Menschen in palliativen Situationen integrieren, sei es als Pflegender oder als ehrenamtlicher Begleiter. „Man kann die Fragen der Würdezentrierten Therapie auch einzeln ins Gespräch einfließen lassen, ohne daraus ein Dokument zu erstellen. Das mache ich regelmäßig“, so Gramm. Wie das funktioniert, was man in der Praxis tun kann, um das Würde-Gefühl von Patienten, Bewohnern oder Gästen zu stärken und Verletzungen der Würde vermeiden kann und achtsam bei seiner Aufgabe bleiben kann, vermittelt Würde-Experte Gramm in seinem Kurs „Würde am Lebensende“ in der Hospiz- und Palliativ-Akademie Gütersloh. Der Kurs richtet sich an alle, die haupt- und ehrenamtlich Menschen in palliativen Situationen begleiten.
Eine würdezentrierte Begleitung und Versorgung kann viel bewirken, davon ist Jan Gramm aus seiner Erfahrung überzeugt: „Die Menschen leuchten wieder mehr, spüren, dass sie Würde in sich tragen, ohne, dass sie etwas dafür tun müssen. Es reicht aus, dass wir da sind. Das verleiht uns Würde. Und das wird den Menschen, die sich in einer hochverletzlichen Position befinden, wieder bewusst. Es macht Freude, hierzu beitragen zu dürfen.“

Kurs mit Jan Gramm „Würde am Lebensende“,
28.08.2020 und 29.8.2020,  Anmeldung und Info hier.

Hintergrundinformation:
Jan Gramm, geboren 1966 in Esslingen, Studium der Psychologie und der Kunstpädagogik an der Johann Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seit 2006 als Psychologe im Palliativbereich tätig. Dozententätigkeit in der Weiterbildung Palliativmedizin für Ärzte und in Palliative Care-Kursen. Kursleiter Palliative Care (DGP), Mitglied im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) von 2014-2016. Gründer, Gesellschafter und Geschäftsführer des Instituts für Palliativpsychologie.

Jan Gramm, Palliativpsychologe