Märchen Jana Raile

„Es war einmal …“ – oft reichen diese drei Worte, um uns hineinzuversetzen ins Reich der Märchen und der Kindheit. Menschen jeden Alters lieben Märchen und Geschichten. Auch in der Begleitung von Menschen mit Demenz, in der Trauer oder am Lebensende spielen die vertrauten Erzählungen eine wichtige Rolle. Doch was ist das Besondere an den über Hunderte von Jahren überlieferten Geschichten, das sie eine fast magische Wirkung entfalten lässt?

Helfer auf unserem Lebensweg

Die Erzählkünstlerin Jana Raile aus Neustadt in Holstein erlebt seit über 28 Jahren in ihrer Arbeit mit Märchen deren besonderen Zauber. „Ein wesentlicher Punkt bei Märchen ist: sie erzählen prinzipiell vom Leben“, erklärt sie. „Märchen lassen nichts aus. Sie berichten von Aufgaben, die wir zu bewältigen haben, und auch das Sterben ist nun mal eine Aufgabe. Ich erlebe immer wieder, wie schwer es Menschen fällt, loszulassen. Märchen erzählen davon, dass wir Helfer auf unserem Lebensweg haben, die uns begleiten und unterstützen. Das können zum Beispiel Hospizbegleiter sein. Wir können Sterben nicht für jemand anderen tun, aber wir können den Weg begleiten.“

Die Bildsprache der Seele

Sterben und Abschied sind die größten Grenzerfahrungen menschlichen Seins. Märchen können in dieser Zeit Hilfe und Anker sein, da auch sie sich mit den „unlösbaren Aufgaben“ des Lebens beschäftigen. Die über Jahrhunderte gereiften Märchen sprechen dabei die Bildsprache der Seele – und machen darüber das Unaussprechliche kommunizierbar und erfahrbar. Das ist ein wichtiger Aspekt für ihren Einsatz in der Sterbebegleitung: „Unser Verstand weiß, dass wir loslassen und sterben müssen“, so Jana Raile. „Aber wir brauchen noch eine andere Energie, eine andere Kraft, um das tun zu können. Die Märchenbilder helfen uns, weil sie im Unbewussten wirken. Dadurch unterstützen sie uns im Prozess des Loslassens. Ein schönes Beispiel ist das Märchen vom Sterntaler von Grimm. Da geht es ums Loslassen. Sterntaler gibt alles, was sie hat, Schritt für Schritt ab. Das ist so leicht gesagt. Aber wenn wir das Märchen immer wieder hören, es mit all unseren Sinnen wahrnehmen, fangen wir an, uns selbst mit diesem Loslassen zu beschäftigen. Das ist ein unbewusster Prozess, der da stattfindet. Deshalb glaube ich, dass Märchen tatsächlich eine Magie haben, dass sie uns helfen können, unser Leben und auch unser Sterben zu leben.“

Der Kleine Prinz

Um das Abschiednehmen und Loslassen geht es auch in einem Märchen der neueren Zeit, das Jana Raile im Mai in Gütersloh im „Treff um 8“ erzählen wird: Der Kleine Prinz. Für Jana Raile spiegelt sich hier, wie der Abschied zum Leben dazugehört, auch wenn er schmerzhaft ist – und wie wir damit umgehen können: „Wir Menschen haben oft das Gefühl, die Dinge festhalten zu wollen, keine Veränderung haben zu wollen. Vor allem dann, wenn es gerade gut ist. Der kleine Prinz macht es möglich, dass wir in der Geschichte auch auf das Abschiednehmen, das Loslassen schauen. Er geht immer weiter und bleibt sich selbst treu und auf seinem eigenen Weg.“

Gut und Böse

Das Akzeptieren von Verlust und Abschied als Bestandteile des Lebens lehren Märchen uns auch durch ihre klare Verteilung von Gut und Böse. Jana Raile: „Wir haben in uns meist dieses Gefühl, dass wir immer ‚gut‘ sein und alles richtig machen möchten. Aber in Wirklichkeit sind wir beides, gut und böse. Die Märchen führen uns auch die dunklen und schwarzen Seiten vor Augen, die wir in uns selbst tragen, die aber auch nun mal das Leben hat – und das ist hilfreich.“ Viele Menschen haben Angst vor Trauer, empfinden sie als dunkel und bedrohlich. Jana Raile unterstützt ihre Klienten, die Trauer als Teil des Leben zu integrieren: „Wenn ich sie wegschiebe und nicht wahrhaben will, dann verdränge ich die Trauer. Dann wird sie zu einem mehrköpfigen Drachen. Am Anfang ist es nur ein Drache, aber nachher hat er vielleicht sieben Köpfe und ist total unheimlich. Ich muss ihm dann alle sieben Köpfe abschlagen, weil ich es so lange verdrängt habe. Je früher ich erkenne, dass auch die dunklen und nicht so schönen Aspekte Teil des Lebens und Herausforderungen sind, die es eben zu bewältigen gilt, je mehr ich diesem Weg vertraue, umso heilsamer wird es.“

„Ich pflanze das Haselbäumchen“

Nicht nur in der Trauer um einen geliebten Menschen, auch jetzt in der Corona-Pandemie findet Jana Raile in den Märchen Helfer in der Krise: „Die Corona-Pandemie ist für mich eine Situation, wo man sagen kann, dass die ganze Welt in Trauer ist. Die Märchen können uns helfen, wieder ins Leben zurückzukommen. So wie beim Märchen vom Aschenputtel: Aschenputtel hat ihre Mutter verloren, ist in tiefer Trauer, wird in einen Aschesack gekleidet und muss einfach arbeiten. Ja, wir funktionieren dann in unserer Trauer. Aber wieder zurück ins Leben zu kommen heißt: ich pflanze das Haselbäumchen. Und ich lasse wirklich einen Baum wachsen, und ich bleibe in Verbindung mit dem Verstorbenen. Oder jetzt, in der Pandemie: ich bleibe in Verbindung mit den Menschen, die mir wirklich wichtig sind.“

Wie schaue ich selbst auf den Tod?

In der Auseinandersetzung mit dem Tod selbst sieht Jana Raile in den Märchen spannende Bilder und Anknüpfungspunkte: „Es gibt in allen Kulturen Erzählungen, wo der Tod tatsächlich als Person vorkommt. Diese Person kann Mann oder Frau, alt oder jung sein. Wie man auf die Gestalt des Todes schaut, hat viel mit unserer Prägung zu tun. In unserer Kultur haben wir oft den Sensenmann oder eine Art Knochengerüst mit Umhang vor Augen. Das ist tatsächlich ein Bild, das auch in Märchen vorkommt. Aber ich kann den Tod auch ganz menschlich betrachten. Beim „Gevatter Tod“ von Grimm beispielsweise scheint er einfach ein Mensch zu sein. Ein Mensch, wie du und ich, der dem Vater des Kindes auf der Landstraße begegnet und der dem Kind zum Paten wird. Es gibt ganz viele Facetten, wie wir den Tod im Märchen finden können, wie er uns begegnet, und gerade das hat für mich eine wunderbare Faszination: wie schaue ich selbst, persönlich auf den Tod? Es kann auch sein, dass uns der Tod in unterschiedlichen Bildern begegnet. Wir kennen das aus den alten Mythen: das Wasser, über das ich hinübermuss, auf die andere Seite. Oder der Brunnen, in den ich hineinspringen muss. Hier ist der Tod weniger eine Gestalt, sondern ein Symbol für etwas, was sterben muss, um neu zu beginnen.“

Märchen in der Sterbebegleitung

Neben der wirkkräftigen Symbolik entfalten Märchen gerade in der Sterbebegleitung auch ganz pragmatisch wohltuende und beruhigende Kräfte. Jana Raile erinnert sich daran, wie sie einmal im stationären Hospiz in Gütersloh einen russisch-stämmigen Gast besuchte, für den das Atmen bereits sehr anstrengend war. Sie begann, ihm ein russisches Märchen zu erzählen: „Und allein die vertrauten Worte darin wie ‚Ivan‘ und ‚Baba Jaga‘ bewirkten, dass der Gast ruhiger atmen konnte. Vielleicht fühlte er sich in seine Kindheit zurückgeführt, es schien, als würde er zu Hause ankommen.“ Auch die ehrenamtlichen Märchenerzähler des Gütersloher Hospiz- und Palliativ-Vereins berichten immer wieder davon, wie Menschen beim Hören von Märchen beruhigter werden und Brücken von Mensch zu Mensch gebaut werden können.

Umfassende Einblicke in die Wirkung von Märchen in der Sterbebegleitung wird Jana Raile am 8. und 9. Mai in einem Seminar der Hospiz- und Palliativ-Akademie Gütersloh vermitteln. Unter dem Titel „Heldenreise – mit Märchen begleiten“ werden wir durch Bildbetrachtung, Austausch und kreative Impulse Märchen erlebbar machen, Helfer darin finden und lernen, die Kräfte der Märchen für das Leben und Sterben zu nutzen.

Termine mit Jana Raile in Gütersloh:

Seminar „Heldenreise – mit Märchen begleiten„:
07.05.2021, 16:30 – 20:00 Uhr und 08.05.2021, 09:00 – 16:00 Uhr
Mehr Info und Buchung: hier

Treff um 8: Der kleine Prinz:
10.05.2021, 20:00 Uhr, online via Zoom, Anmeldung: hier 

Über Jana Raile

Mit 17 Jahren erlebt Jana Raile zum ersten Mal einen Erzähler – und es war um sie geschehen. Bereits ein Jahr später stand sie selbst erzählend auf der Bühne. Wie beim „Teufel mit den drei goldenen Haaren“, wo das Glückskind sagt ‚Ich weiß alles‘, legte sie einfach los. Und der Erfolg gab ihr schnell recht. Vieles lernte die Erzählkünstlerin autodidaktisch und verfeinerte es dann mit Weiterbildungen, unter anderem in England, im Centre for the Research and Development of Traditional Storytelling bei Erzähler Ben Haggarty.

Jana Raile ist zudem Systemische Aufstellungsleiterin, hat Ausbildungen in Körperpsychotherapie (PI) und als Gesundheitspraktikerin und ist Autorin. Sie bietet Seminare, Bühnenprogramme und Selbsterfahrung mit Märchen an.

Eines ihrer persönlichen Lieblingsmärchen ist ‚Schneewittchen‘. Sie ist fasziniert von den Gegensätzen: die zerstörerische Energie der bösen Königin einerseits und die vertrauensvolle Naivität des Schneewittchens andererseits. Beide Anteile erkennt sie in sich selbst – allerdings mit dem Ziel, die bedingungslose Energie der Königin für etwas Gutes einzusetzen.